Bei den Seepferdchen spritzt das Weibchen den Männchen
die Embryonen in die Bauchtasche. Ich kann mir kein stimmigeres Symbol für einen radikalen, feministischen Protest vorstellen.
Wie kam es zur Wahl des Seepferdchens als Zeichen für den Aktionismus Elviras? Und weshalb wurde für den Titel das lateinische Wort „Hippocampus“ gewählt?
Elvira ist eine Urgewalt. Es reicht ihr nicht, ein völlig unkonventionelles Leben zu führen, das ohne Rollenklischees auskommt: Sie will die Gesellschaft fundamental wachrütteln und macht auch vor den in Stein gehauenen Helden nicht halt.
Hippocampus war der Arbeitstitel, von Anfang an. Bei den Seepferdchen spritzt das Weibchen den Männchen die Embryonen in die Bauchtasche. Ich kann mir kein stimmigeres Symbol für einen radikalen, feministischen Protest vorstellen. Und dann gibt es noch den Gehirnteil Hippocampus, der dafür sorgt, dass Erinnerungen vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis wandern. Im Zusammenhang mit der Erinnerungskultur, die im Roman eine große Rolle spielt, war der Titel doppelt passend. Last but not least: aus sprachmusikalischen Gründen.
Wie gehen Sie beim Schreiben vor? Haben Sie den Plot und den Ausgang der Geschichte von Beginn an schon genau vor Augen oder wissen Sie das erst gegen Ende?
Meist schreibe ich zuerst um die Figuren und das Setting herum, dann nimmt der Plot im besten Fall Fahrt auf, oder das Projekt versandet. Ab dem ersten Drittel weiß ich grob, wohin es zieht und wie es ungefähr endet. Details entstehen erst im Schreibprozess. Die Recherche läuft parallel, da grabe ich, bis ich etwas finde.
Immer wieder überrascht Ihr Schreibstil mit bestimmten Wörtern oder Ausdrücken, die aus dem sonstigen Sprachrhythmus herausstechen und einen aufmerken lassen. Wie würden Sie Ihren eigenen Schreibstil beschreiben?
Musikalisch, hysterisch, ungeniert. Ich steigere mich und meine Figuren in ihre Situation und Sprache hinein, höre zu, was sie zu sagen haben, sehe zu, wie sie agieren und schreibe es auf. Dann folgen mehrere Reifungsstadien, und Denk- und Ordnungsprozesse. So ungefähr.
Heute haben Frauen, so sie nicht über frauenpolitische
Themen schreiben, ganz gute Karten. Aber sobald sie dem Patriarchat ans Bein
pinkeln, wird es schwierig.
Ein wichtiges, wenn nicht das Hauptthema Ihres Buches ist die Kritik an der Buchbranche und am Kulturbetrieb generell, an dem die verstorbene Helene Schulze zugrunde gegangen ist. Wie beurteilen Sie die Situation weiblicher Kulturschaffender im Kulturbetrieb heute?
In der Vergangenheit wurde Kunst von Frauen aus Prinzip nicht ernst genommen bzw. verhindert. Heute haben Frauen, so sie nicht über frauenpolitische Themen schreiben, ganz gute Karten. Aber sobald sie dem Patriarchat ans Bein pinkeln, wird es schwierig. Dass meine Bücher publiziert, gekauft und besprochen werden, werte ich dementsprechend als gutes Zeichen, dass wir wieder ein Stück weiter sind.
Ich denke aber, das Narrativ rund um den literarischen Geniekult wirft uns immer wieder zurück an den Start. Das Problem beginnt an den Schulen und Unis, geht über die Feuilletons, Preis-Jurys und literarischen Nebenschauplätze wie Film und Theater, und endet an der Verkaufstheke des Buchhandels, wo sich alles wieder in den Schwanz beißt. Darüber, dass hauptsächlich Männer über Bücher von Männern dozieren, schreiben und schwärmen, gibt es tonnenweise Statistiken. Frauen und ihre Biografien bleiben Nebenschauplätze; in der Literatur, in der Gesellschaft, in der Politik. Leider sind Frauen ein beachtlicher Teil des Problems. Vor allem, wenn sie an den entscheidenden Machthebeln sitzen und sich nicht an ihre tapferen Ahninnen erinnern, denen sie den Mut, sich mit dem Patriarchat anzulegen, schuldig bleiben. Würden Frauen genauso geschlechtertreu und solidarisch packeln, lesen und kaufen wie Männer, wäre der Literaturbetrieb für Frauen gemütlicher.
Helene Schulze, die in jungen Jahren zu großem Erfolg gelangte und sich später für ein eheliches Leben mit Kindern entschied, versucht es nach dem Scheitern ihrer Ehe wieder als Autorin. Wie würden Sie generell das Verhältnis von Mutter- und Autorinnenschaft beschreiben? Und welche Rolle spielte es in Helene Schulzes Lebenslauf?
Ausschließlich vom Schreiben zu leben ist den wenigsten möglich. Mit Kindern wird es nicht leichter. Nicht nur, weil sie mit ihren Bedürfnissen und Forderungen vom kreativen Prozess ablenken. Die Genies, die Kinder gehütet und nebenbei große Literatur oder Wissenschaft produziert haben, soll mir mal jemand zeigen. Der Beruf wirkt zwar familientauglich, ist dann aber alltagsorganisatorisch unberechenbar. Das Schreiben muss man/frau sich leisten können: emotional, finanziell, familiär. Mutterschaft ist einer von vielen Fluchtwegen aus dem Schreiben, bevor es zum Scheitern verkommt.
Helene Schulze schiebt die Familie vor; aber eigentlich weicht sie dem Erfolgsdruck und der Willkür der Kritik aus. Das ist legitim, aber trotzdem sehr schade.
Elvira und Adrian sind zwei Protagonisten, die in ihren Ansichten nicht unterschiedlicher sein könnten. Wieso entscheidet sich Elvira ausgerechnet für ihn als „Handlanger“ ihres Aktionismus?
Elvira ist egoistisch, knapp bei Kasse und hat gute Menschenkenntnis. Sie erkennt in Adrian einen billigen, willfährigen Assistenten. Adrian ist in seiner finanziellen Notlage leicht auszubeuten. Ich brauchte ihn in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihr, denn ohne das wäre er ihr niemals nahe genug gekommen, um in eine Art Beziehung zu treten; von Sex ganz zu schweigen. Nicht zuletzt: Adrian ist appetitlich, umgänglich und wohlerzogen. Diese Eigenschaften schätzen doch alle Frauen an Männern.