Frühlingsprogramm 2020

Unsere Neuerscheinungen zum Durchblättern!

 

SACHBUCH- UND BELLETRISTIKPROGRAMM IM FRÜHJAHR 2020

 

  • Katja Jungwirth beschreibt in ihrem Buch „Meine Mutter, das Alter und ich“ die komplexe Beziehung zwischen einer Tochter und ihrer pflegebedürftigen Mutter. Ein Buch voller aufrichtiger und berührender Geschichten, in denen sich viele wiedererkennen werden.

 

  • Vom Gastarbeiterkind zur ORF-Wetterfee: Die ORF Moderatorin Eser Akbaba erzählt in „Sie şprechen ja Deutsch!“, mit welchen Schwierigkeiten ihre Familie konfrontiert war, als sie in Österreich ankam und was es heißt, zwischen zwei Welten aufzuwachsen.

 

  • Unglaublich, aber wahr: Sehr viele Frauen sind im Jahr 2020 von Altersarmut bedroht. Schluss damit, sagt Larissa Kravitz. Egal, ob kleines oder großes Budget – „Money, honey!“ ist der ideale Begleiter für die ersten Schritte in die Welt des Geldes.

 

  • Tom Gschwandtner, seit 25 Jahren im Rollstuhl, und Christian Redl, Profi-Freitaucher und mehrfacher Weltrekordhalter, sind Entscheidungs-Profis. In „Wirklich leben heißt entscheiden“ inspirieren sie ihre Leser in persönlichen Geschichten, sich auf die eigene Stärke zu besinnen und sich den eigenen Entscheidungen zu stellen.

 

  • Über die Liebe zwischen jüngeren Männern und älteren Frauen: Unterfüttert mit vielen Beispielen berühmter Paare begibt sich Evelyn Steinthalers Happy End für Mrs Robinson“ auf die Suche nach der Liebe mit großem Altersunterschied in Film, Popmusik und Literatur.

 

  • Für eine ausgeglichene Work-Love-Balance: In „Love first, work second“ beschreiben Elisabeth Gatt-Iro und Stefan Gatt, wie sie Stress und Frust im Büro lassen und ihr Leben so verändern, dass Beruf und Liebe nicht nur „irgendwie nebeneinander funktionieren“.

 

  • „Du hast ja einen Vogel!“ In „Flugversuche“ zeigt der Arzt und Psychotherapeut Georg Wögerbauer in bildhaften, poetischen Texten, wie man sich von Ängsten, Zwängen, Gewohnheiten und Blockaden lösen kann, um sich freier zu fühlen – und abzuheben.

 

  • Alles, was werdende Väter über die Schwangerschaft wissen sollten: Jung-Vater Bernhard Gitschtaler verrät in „Papa werden!“ Tipps und Tricks für die Zeit vor der Zeugung bis zu den ersten Monaten mit dem Nachwuchs.

 

 

LITERATURFRÜHLING 2020

 

  • Flüchtlinge besetzen eine Kirche, um für ihre Rechte zu kämpfen: Daniel Zipfel widmet sich in „Die Wahrheit der anderen“ den Grauzonen der Asylpolitik und zeigt, wie es um das Schicksal von Menschen steht, wenn persönliche Interessen im Spiel sind und dass die Wahrheit weitaus komplexer ist als ihre Darstellung.

 

  • Wenn Kinder die Herrschaft übernehmen: Ein abgeschiedenes Dorf, leere Bauernhöfe, eine aufgelassene Schule. Lucia Leidenfrost entwirft in ihrem Romandebüt „Wir verlassenen Kinder“ eine unheimliche und vielstimmige Parabel über Macht, Gewalt, Widerstand und den Glauben an das Gute.

 

  • Eine wütende Mutter schreibt Briefe an Jesus, einen Frosch, das Loch. Seit sie ein Kind hat, fühlt sie sich isoliert und in alten Rollenmustern gefangen und fragt sich, ob alles immer schon so war und warum eigentlich alles so bleiben muss. Simone Hirth stellt in ihrem neuen Roman „Das Loch“ die Grundfeste unserer Gesellschaft infrage.

 

  • 15 Hetzreden gegen das Patriarchat, gegen die Politik, gegen alles! Lydia Haider ist es gelungen, mit „Und wie wir hassen!“ einen Band mit Texten zusammenzustellen, die von Wut und Verzweiflung erzählen, aber auch Mut machen, Dinge zu ändern und überkommene Strukturen zu hinterfragen. Mit Texten von Sibylle Berg, Marlene Streeruwitz, Stefanie Sargnagel und vielen mehr!

 

Tonio Schachinger erhält den Förderpreis des Bremer Literaturpreises 2020!

Dieses Jahr geht der Förderpreis des Bremer Literaturpreises 2020 an “Nicht wie ihr” von Tonio Schachinger.

Jurybegründung:
„Der Roman „Nicht wie ihr“ ist viel mehr als ein milieugetreues Fußballbuch: Mit seinem Helden Ivo Trifunović zeichnet der Autor das Bild eines Profikickers aus Wien, der mit Witz und kontrollierter Wut auf Zumutungen des Business, ethnische Vorurteile und eine vorgestanzte Sprache reagiert, ein Macho, haarsträubend und beinahe liebenswert.“

 

Die Preise werden am 20. Januar 2020 um 12.00 Uhr im Bremer Rathaus verliehen. Am Vorabend der Preisverleihung findet eine moderierte Lesung der beiden Preisträger um 18.00 Uhr in der Glocke statt.

 

 

Incentives – Austrian Literature in Translation

Incentives ist ein gemeinsames Projekt des Literaturhaus-Buchmagazins und der IG Übersetzerinnen Übersetzer. Es wurde 2008 in Kooperation mit der Europäischen Literaturplattform readme.cc ins Leben gerufen und stellt eine repräsentative Auswahl von Neuerscheinungen österreichischer AutorInnen vor, mit dem Ziel, Impulse für die Übersetzung und Veröffentlichung neuester österreichischer Literatur im Ausland zu setzen. Werke arrivierter AutorInnen stehen dabei neben beachteten Debuts, Romane und Erzählungen neben experimentellen Texten und Lyrik. Jedes Werk wird mit einer Leseprobe und einer Kurzrezension auf Deutsch und in vier weiteren Sprachen präsentiert.

Hier gehts zu den Übersetzungen

„Utopie | Dystopie“: Geförderte Lesungen mit Gertraud Klemm

Die vom Büchereiverband Österreichs organisierte und vom Bundeskanzleramt Österreich im Rahmen der Büchereiförderung 2020 geförderte Aktion „Utopie | Dystopie“ ermöglicht den öffentlichen Bibliotheken österreichweit von Jänner bis Dezember 2020 subventionierte Veranstaltungen mit ausgewählten Autorinnen und Autoren durchzuführen.

Mit dabei ist unsere Autorin Gertraud Klemm mit “Hippocampus”

Weitere Informationen zu den geförderten Lesungen finden Sie hier

 

Der Auschwitz-Überlebende Walter Fantl ist tot

Mit dem 1924 geborenen Walter Fantl ist am 24. Oktober 2019 einer der letzten Holocaust-Überlebenden in Österreich gestorben. Walter Fantl hatte seine Kindheit und Jugend im niederösterreichischen Bischofstetten verbracht, 1940 musste er mit seiner Familie nach Wien übersiedeln; alle Bemühungen, die Ausreise in die USA zu erreichen, scheiterten. 1942 wurde Walter Fantl mit seinen Eltern, der Schwester und den beiden Großmüttern nach Theresienstadt deportiert, 1944 kam er mit seinem Vater nach Auschwitz und anschließend ins Nebenlager Gleiwitz I. Als er im Januar 1945 von der Roten Armee befreit wurde, wog er nur noch 37 Kilo. Mit seinen Kameraden, einer Gruppe von 12 Wiener Juden, zog er monatelang durch Polen und Schlesien, zuletzt kam er im Juni 1945 wieder nach Theresienstadt und ging Wochen später nach Wien zurück, wo er endgültig erfuhr, dass niemand von seiner Familie überlebt hatte.

2018 erschien seine von Gerhard Zeillinger aufgezeichnete Lebensgeschichte “Überleben. Der Gürtel des Walter Fantl” im Kremayr & Scheriau-Verlag.

 

Shortlist Deutscher Buchpreis 2019: “Nicht wie ihr” von Tonio Schachinger ist nominiert!

Die Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht fest und der Debütroman „Nicht wie ihr” von Tonio Schachinger ist dabei! Wir gratulieren ganz herzlich!

Weitere Infos zum Preis und die nominierten Titel finden Sie hier: https://www.deutscher-buchpreis.de/nominiert/

Der Shortlistabend findet am 29. September 2019 um 17:00 Uhr im Schauspiel Frankfurt statt.

Erscheinungstermin: 26. August 2019

Shortlist-Autor im Interview: Tonio Schachinger

Was liebt man denn, wenn man den Fußball liebt?

In Ihrem Debütroman „Nicht wie ihr“ geht es um das Leben eines Profifußballers. Was ist Ihre persönliche Beziehung zum Fußball?  

 

Ich habe als Kind und Jugendlicher eigentlich eine recht klassische Fußballsozialisation durchlaufen, war mit meinem Opa im Stadion und habe in der Schulzeit fast jeden Tag gespielt, ohne je als besonders talentiert aufzufallen. Nachdem mich Fußball eine Zeit lang weniger interessiert hat, ist es mit dem Auftauchen von Spielern wie David Alaba und Marko Arnautović dann zu einer Art Renaissance gekommen. Inzwischen verfolge ich hauptsächlich die Spiele des österreichischen Nationalteams. Sobald man über etwas schreibt, verändert sich sowieso noch einmal der Blickwinkel darauf. Man kann dann seinem Hobby nachgehen, also etwas machen, was man ohnehin machen würde und es als Recherche rechtfertigen, gleichzeitig ist man irgendwann auch wieder fertig damit. Ich würde nicht noch ein Buch über Fußball schreiben.

 

Ihr Buch ist nicht nur für Fußballfans lesenswert, sondern auch für komplette Neulinge, die einen Einblick in die Welt eines Profispielers gewinnen wollen. Was war der Anlass für dieses Buch und was reizte Sie an diesem Thema, an diesem Protagonisten besonders?

 

Das Interessante am Profifußball ist, dass er einerseits medial sehr präsent ist, dass es aber andererseits, gerade aufgrund dieser überbordenden Berichterstattung, in der jede kleine Verfehlung von jungen Menschen zu einem Riesenskandal aufgebauscht wird, kaum noch authentische Aussagen der Fußballer selbst gibt, die über eingelernte PR-Floskeln hinausgehen. Was weiß man denn über das Innenleben eines David Alaba oder eines Aleksandar Dragović? Diese Diskrepanz hat mich fasziniert und ich sehe darin ein großes literarisches Potenzial, ganz nach dem Motto: Was sonst nicht zugänglich ist, kann durch Literatur fiktional erschlossen werden.

 

Wie ist der Titel Ihres Debüts „Nicht wie ihr“ zu verstehen?

 

Für mich hat der Titel eine doppelte Bedeutung. Er verweist natürlich erst einmal auf die große Differenz zwischen dem von der Realität entkoppelten Leben eines Fußballstars und denen von normalen Menschen, sowie auf die Entfremdungsgefühle meines Protagonisten gegenüber seiner Umgebung. Gleichzeitig sind aber viele der Themen im Roman welche, die prinzipiell jeden Menschen betreffen können: Familie, Liebe, der Umgang mit Fremdzuschreibungen und mit der eigenen (Migrations-)Geschichte, Untreue. Dadurch kann der Titel auch ironisch gelesen werden, denn Ivo ist schon auch „wie wir“, insofern die Fragen, die ihn beschäftigen, allgemeine, über den Fußball hinausgehende sind. Das war auch eine der Sachen, die mich beim Schreiben sehr gereizt haben: zu zeigen, dass diese scheinbar so weit von jeglicher Realität entfernten Fußballer ein Identifikationspotenzial für verschiedene Arten von Leser*innen anbieten und womöglich auch interessante Sichtweisen liefern können, die über ihre gesellschaftlich zugewiesenen Rollen hinausgehen.

 

Wenn man Ihren Roman liest, dann spürt man an manchen Stellen regelrecht die Wut des Protagonisten Ivo, seine Herablassung gegenüber anderen. Diese ständige Wut und Unzufriedenheit, die in Ivo steckt – woher kommt sie und gegen wen oder was ist sie gerichtet? 

 

Ich denke, dass Wut und Unzufriedenheit sogar dann, wenn es gute Gründe für sie gibt, immer in erster Linie mit einem selbst zu tun haben. Im Fall meines Protagonisten stehen sie meiner Meinung nach insbesondere in Zusammenhang mit seinem eigenen verkorksten Männlichkeitsbild und den daraus resultierenden Ansprüchen an sich selbst und an andere. Deshalb richtet sich Ivos Aggression auch größtenteils gegen andere Männer, zu denen er sich in Konkurrenz vermutet. Mich hat es interessiert, einen Protagonisten zu schreiben, der Elemente eines Antihelden in sich trägt, dem man also manchmal vielleicht in seinen Wertungen und Meinungen rechtzugeben verleitet ist, der gleichzeitig aber selbst sehr unsympathische Züge trägt und mit seinem Verhalten anderen schadet.

Dazu kommt natürlich die Rolle der Erzählperspektive, die in weiten Teilen etwa dem entspricht, was auf englisch recht knackig „free indirect discourse“ heißt, bei der es also keine klare Trennung zwischen Erzählinstanz und Protagonist gibt, ohne dass jedoch aus dem Ich heraus erzählt wird. Wir sehen dennoch alles nur aus Ivos Perspektive und hören nur seine Sichtweise, ohne alternative oder widersprechende Zwischentöne. Ob man dieser Darstellung der Ereignisse folgt oder sie hinterfragt, beziehungsweise darin auch Elemente eines unzuverlässigen Erzählens entdeckt, hängt wohl von den Einstellungen und Wertehaltungen der Leser*innen ab. Mein Ziel war es, ein vielschichtiges Bild eines Menschen zu zeigen, der sich sowohl kluge als auch dumme Gedanken macht und den man als Leser*in weder ausschließlich unsympathisch findet, noch affirmativ verklärt.

 

An einer Stelle in Ihrem Buch heißt es:Man muss den Fußball nicht lieben, man muss ihn aushalten!“ Was bedeutet der Fußball dem Protagonisten Ivo? 

 

Die meisten Menschen können sich nicht vorstellen, wie hart das Leben von Profifußballern ist. Um diesen Lebensweg einzuschlagen, muss man sehr viel aufgeben, insbesondere in der Jugend, also in der Zeit, in der man gemeinhin den Ausbruch aus Normen und Zwängen erprobt. Im Grunde fügt man sich als Fußballer für die Dauer der aktiven Karriere (und oft auch darüber hinaus) in ein Leben, in dem man die Autorität über den eigenen Körper und die einem zur Verfügung stehende Zeit komplett an seinen Verein abgibt und als Wertanlage dieses Vereins sowie als Identifikationsobjekt des Landes, dessen Trikot man trägt, unter permanenter Beobachtung steht. Es ist also zu vermuten, dass das Verhältnis von Profifußballern zu ihrem Beruf ein wesentlich ambivalenteres ist, als es ihre Aussagen in Interviews meistens vermuten lassen.

 

Wenn Sie Ihren Protagonisten Ivo mit drei Worten beschreiben müssten, welche würden Sie wählen?

 

Nicht wie ihr.

 

 

 

 

Autorin im Interview: Irmgard Fuchs

Im Radio warnen die Experten. Treffen Sie bei so hohen Temperaturen keine großen Lebensentscheidungen.

Die Protagonistin Ihres Debütromans namens Doro Grimm empfindet eine starke Sehnsucht nach dem Besonderen, dem Außergewöhnlichen. Dabei sind ihre Wünsche letztendlich doch ziemlich realistisch: eine schöne, mondäne Wohnung in einer großen Stadt, eine Weltreise. Was hält sie davon ab, ihr Leben in diese Bahnen zu lenken?

 

Doro kommt aus einer Realität, in der erst einmal nichts für sie einfach gewesen ist, weil es für niemanden einfach war. Das Leben ihrer Großeltern war auf ein altes Haus am Waldrand beschränkt und auch ihre Mutter hat als Alleinerziehende jahrzehntelang in der Fabrik gearbeitet und hatte daneben keine großen Energien mehr für die Verwirklichung von Aufstiegs- oder Glücksfantasien. Im Vergleich zu den Leben ihrer Vorgängergenerationen ist Doros Existenz also sozusagen bereits in die besten Bahnen geraten: Sie hat Matura, eine sichere Anstellung, sie kann auf Urlaub fahren. Und im Gegensatz zu ihrer Mutter, die ein Leben lang daran gescheitert ist, hat sie es auch geschafft, eine „harmonische“ Beziehung einzugehen. Doro spürt darum auch die ganze Zeit sehr stark, dass sie eigentlich gar nicht anders darf, als zufrieden mit ihrem Leben zu sein.

 

Doro ist mit Elmar seit sechs Jahren in einer Beziehung. Sie lieben sich. Wieso klappt es mit den beiden dennoch nicht? 

 

Die Liebe an sich klappt ja, vom Gefühl her. Doro liebt Elmar und Elmar liebt auch Doro. Nur denkt Doro, dass Elmar in Wahrheit eben nicht sie liebt, sondern die Person, die sie vorgibt zu sein. Und eigentlich hat sie sich ja auch in Elmar gerade deshalb verliebt: Weil er jemanden in ihr gesehen hat, die sie immer schon gern sein wollte. Und Elmar, der ein extremes Gewohnheitstier ist, verkörpert für Doro auch einen Zugang zum Leben, den sie ja unbedingt auch haben möchte: Elmar ist nämlich grundsätzlich immer mit dem zufrieden, was er eben gerade haben kann. Denn er besitzt ein sehr klares Bewusstsein dafür, dass auch alles sehr viel schlimmer, viel weniger, viel schwieriger sein könnte. Etwas, das ihm die Zeitung ja auch jeden Morgen beim Frühstück mit Berichten über den maroden Zustand der Welt aufs Neue bestätigt.

 

Von ihrer neuen Wohnung aus beobachtet Doro unaufhörlich den Mann und die Frau von Gegenüber. Worin liegt ihr starkes Interesse an dem Paar?

 

Doro wagt etwas, von dem sie nicht wirklich gedacht hat, dass sie es tun könnte: Sie erfüllt sich den Traum, der ihr seit achtzehn Jahren im Kopf rumspukt, packt ihre Sachen und zieht Hals über Kopf in eine Zwischenmietwohnung in der Großstadt. Dort merkt sie aber schnell: Träume taugen nicht wirklich für den täglichen Gebrauch. Als eine extreme, wochenlang anhaltende Hitzewelle über die Stadt hereinbricht und Doro in eine Art Lähmungszustand versetzt, bleibt ihr fast nur noch der Blick nach drüben ins Fenster der anderen. Und das Paar, das dort wohnt, hat aus Doros Perspektive gesehen nicht nur alles richtig gemacht – von der großen Liebe, die ihr regelrecht über die Gasse hinweg entgegenspringt, bis hin zur exquisiten Zimmereinrichtung –, sondern diese Art von geglücktem Leben scheint absolut selbstverständlich für die beiden zu sein. Etwas, das Doro hofft, sich von ihnen abschauen zu können, wenn sie nur oft und genau genug hinschaut.

 

Ein wesentliches Merkmal der Sprache und Stilistik Ihres Buches ist die durchgängige Verwendung der Du-Form und des Präsens. Wieso haben Sie sich für diese Erzählhaltung und diese Erzählzeit entschieden?

 

Die Du-Form habe ich gewählt, weil Doro sich selbst verloren hat. Sie kann kein Ich mehr für sich verwenden, nicht mehr aus dem Inneren nach außen blicken, sondern sie schaut immerzu auf sich. Sie beobachtet sich selbst und fragt sich auch, was sie da eigentlich die ganze Zeit tut – was natürlich ein Symptom der Generation Y gesehen werden könnte, zu der Doro zählt, aber es ist vor allem auch eine Art von Sich-selbst-unterwegs-verloren-haben. Das Präsens zeigt für mich, dass bestimmte Erinnerungen und Erfahrungen, mögen sie auch noch so lange zurückliegen, im Grunde immer in einem drin sind. Sie sind präsent. Sie sind da. Wo man herkommt, aus welchem Milieu, aus welchen Umständen, sogar aus welcher geografischen Region – alles formt mit, was wir über uns denken, wie wir handeln, was wir wagen und vor allem: was wir nicht wagen.

 

In Ihrem Buch tauchen immer wieder Vögel auf, in unterschiedlichsten Formen und Facetten. Was bedeuten diese Tiere der Protagonistin?

 

Als Kind musste Doro viel Zeit bei ihren Großeltern verbringen, die nicht gerade kinderliebe oder herzliche Menschen waren. Den einzigen echten Freund, den Doro dort hatte, war der überfütterte, zerrupfte Wellensittich, dem sie so lange hoch und heilig schwor, dass sie ihn ganz bald aus dem Käfig und den widrigen Umständen retten würde, bis er eines Tages tot von der Stange fiel. Ein Versäumnis, das im Dorokind eine tiefe Schuld zurücklässt, und zugleich natürlich auch für Doro bis heute daran erinnert, dass sie aufpassen muss, die Gelegenheit, ihrem eigenen Gefängnis zu entkommen, nicht zu verpassen.In der Stadt werden die Vögel im Baum vor dem Fenster dann wie damals in der Kindheit aus Mangel an andren Optionen zu ihren Verbündeten. Und wieder verspürt Doro die Dringlichkeit, die Vögel zu retten, denn durch die Hitzewelle können sie nicht mehr richtig fliegen, nicht mehr singen, finden nichts zu fressen – und fallen schließlich sogar tot vom Himmel.

Autorin im Interview: Gertraud Klemm

Bei den Seepferdchen spritzt das Weibchen den Männchen
die Embryonen in die Bauchtasche. Ich kann mir kein stimmigeres Symbol für einen radikalen, feministischen Protest vorstellen.

Wie kam es zur Wahl des Seepferdchens als Zeichen für den Aktionismus Elviras? Und weshalb wurde für den Titel das lateinische Wort „Hippocampus“ gewählt?

Elvira ist eine Urgewalt. Es reicht ihr nicht, ein völlig unkonventionelles Leben zu führen, das ohne Rollenklischees auskommt: Sie will die Gesellschaft fundamental wachrütteln und macht auch vor den in Stein gehauenen Helden nicht halt.

Hippocampus war der Arbeitstitel, von Anfang an. Bei den Seepferdchen spritzt das Weibchen den Männchen die Embryonen in die Bauchtasche. Ich kann mir kein stimmigeres Symbol für einen radikalen, feministischen Protest vorstellen. Und dann gibt es noch den Gehirnteil Hippocampus, der dafür sorgt, dass Erinnerungen vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis wandern. Im Zusammenhang mit der Erinnerungskultur, die im Roman eine große Rolle spielt, war der Titel doppelt passend. Last but not least: aus sprachmusikalischen Gründen.

 

Wie gehen Sie beim Schreiben vor? Haben Sie den Plot und den Ausgang der Geschichte von Beginn an schon genau vor Augen oder wissen Sie das erst gegen Ende?

Meist schreibe ich zuerst um die Figuren und das Setting herum, dann nimmt der Plot im besten Fall Fahrt auf, oder das Projekt versandet. Ab dem ersten Drittel weiß ich grob, wohin es zieht und wie es ungefähr endet. Details entstehen erst im Schreibprozess. Die Recherche läuft parallel, da grabe ich, bis ich etwas finde.

 

Immer wieder überrascht Ihr Schreibstil mit bestimmten Wörtern oder Ausdrücken, die aus dem sonstigen Sprachrhythmus herausstechen und einen aufmerken lassen. Wie würden Sie Ihren eigenen Schreibstil beschreiben?

Musikalisch, hysterisch, ungeniert. Ich steigere mich und meine Figuren in ihre Situation und Sprache hinein, höre zu, was sie zu sagen haben, sehe zu, wie sie agieren und schreibe es auf. Dann folgen mehrere Reifungsstadien, und Denk- und Ordnungsprozesse. So ungefähr.

Heute haben Frauen, so sie nicht über frauenpolitische
Themen schreiben, ganz gute Karten. Aber sobald sie dem Patriarchat ans Bein
pinkeln, wird es schwierig.

Ein wichtiges, wenn nicht das Hauptthema Ihres Buches ist die Kritik an der Buchbranche und am Kulturbetrieb generell, an dem die verstorbene Helene Schulze zugrunde gegangen ist. Wie beurteilen Sie die Situation weiblicher Kulturschaffender im Kulturbetrieb heute?

In der Vergangenheit wurde Kunst von Frauen aus Prinzip nicht ernst genommen bzw. verhindert. Heute haben Frauen, so sie nicht über frauenpolitische Themen schreiben, ganz gute Karten. Aber sobald sie dem Patriarchat ans Bein pinkeln, wird es schwierig. Dass meine Bücher publiziert, gekauft und besprochen werden, werte ich dementsprechend als gutes Zeichen, dass wir wieder ein Stück weiter sind.

Ich denke aber, das Narrativ rund um den literarischen Geniekult wirft uns immer wieder zurück an den Start. Das Problem beginnt an den Schulen und Unis, geht über die Feuilletons, Preis-Jurys und literarischen Nebenschauplätze wie Film und Theater, und endet an der Verkaufstheke des Buchhandels, wo sich alles wieder in den Schwanz beißt. Darüber, dass hauptsächlich Männer über Bücher von Männern dozieren, schreiben und schwärmen, gibt es tonnenweise Statistiken. Frauen und ihre Biografien bleiben Nebenschauplätze; in der Literatur, in der Gesellschaft, in der Politik. Leider sind Frauen ein beachtlicher Teil des Problems. Vor allem, wenn sie an den entscheidenden Machthebeln sitzen und sich nicht an ihre tapferen Ahninnen erinnern, denen sie den Mut, sich mit dem Patriarchat anzulegen, schuldig bleiben. Würden Frauen genauso geschlechtertreu und solidarisch packeln, lesen und kaufen wie Männer, wäre der Literaturbetrieb für Frauen gemütlicher.

 

Helene Schulze, die in jungen Jahren zu großem Erfolg gelangte und sich später für ein eheliches Leben mit Kindern entschied, versucht es nach dem Scheitern ihrer Ehe wieder als Autorin. Wie würden Sie generell das Verhältnis von Mutter- und Autorinnenschaft beschreiben? Und welche Rolle spielte es in Helene Schulzes Lebenslauf?

Ausschließlich vom Schreiben zu leben ist den wenigsten möglich. Mit Kindern wird es nicht leichter. Nicht nur, weil sie mit ihren Bedürfnissen und Forderungen vom kreativen Prozess ablenken. Die Genies, die Kinder gehütet und nebenbei große Literatur oder Wissenschaft produziert haben, soll mir mal jemand zeigen. Der Beruf wirkt zwar familientauglich, ist dann aber alltagsorganisatorisch unberechenbar. Das Schreiben muss man/frau sich leisten können: emotional, finanziell, familiär. Mutterschaft ist einer von vielen Fluchtwegen aus dem Schreiben, bevor es zum Scheitern verkommt.

Helene Schulze schiebt die Familie vor; aber eigentlich weicht sie dem Erfolgsdruck und der Willkür der Kritik aus. Das ist legitim, aber trotzdem sehr schade.

 

Elvira und Adrian sind zwei Protagonisten, die in ihren Ansichten nicht unterschiedlicher sein könnten. Wieso entscheidet sich Elvira ausgerechnet für ihn als „Handlanger“ ihres Aktionismus?

Elvira ist egoistisch, knapp bei Kasse und hat gute Menschenkenntnis. Sie erkennt in Adrian einen billigen, willfährigen Assistenten. Adrian ist in seiner finanziellen Notlage leicht auszubeuten. Ich brauchte ihn in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihr, denn ohne das wäre er ihr niemals nahe genug gekommen, um in eine Art Beziehung zu treten; von Sex ganz zu schweigen. Nicht zuletzt: Adrian ist appetitlich, umgänglich und wohlerzogen. Diese Eigenschaften schätzen doch alle Frauen an Männern.